Wir erinnern uns: Jeder Zellkern des Menschen beherbergt 46 Chromosomen, von denen 22 Chromosomen doppelt angelegt sind. Das „ehemalige“ Chromosomenpaar 23 ist ein ungleiches Paar. Es kann in zwei verschiedenen Kombinationen auftreten: Die Kombination zweier X-Chromosomen (XX) führt zu einem weiblichen Organismus, die Kombination von X-Chromosom und Y-Chromosom (XY) zu einem männlichen. Es ist daher naheliegend anzunehmen, daß diese Unterschiede auch zu molekularen Differenzen zwischen Männern und Frauen führen. Was hat es also auf sich mit dem „kleinen Unterschied“ zwischen Mann und Frau?
Das X-Chromosom (Abb. 55) ist ein „ganz normales“ Chromosom mit etwa 2000 Genen und reiht sich hinsichtlich seiner Größe hinter Chromosom 7 ein. Dagegen ist das Y-Chromosom entwicklungsgeschichtlich gesehen nur noch die Restversion eines X-Chromosoms. Vor 300 Millionen Jahren nämlich, als die sexuelle Vererbung entstand, hatte sich das Y-Chromosom offenkundig aus der Abwandlung eines X-Chromsoms entwickelt. Nur noch fünf Prozent des X- und Y-Chromosoms sind heute einander ähnlich. Die Hälfte des Y-Chromosoms enthält keine funktionsfähigen Gene. Allerdings hat das Y-Chromosom im Laufe von Jahrmillionen nicht nur exprimierbare Gene verloren, sondern auch Genabschnitte von anderen Chromosomen in sein Genom aufgenommen. Insgesamt handelt es sich um noch 78 verbliebene Gene, die Proteine bilden können. Einige dieser Proteine werden überall im Körper des Mannes produziert, eingeschlossen das Gehirn, andere ausschließlich in den Hoden.
Betrachten wir einen männlichen Feten mit den Geschlechtschromosomen XY. Bis zum Ende der 6. Schwangerschaftswoche sind die Anlagen der Keimdrüsen und Genitalanlagen beider Geschlechter morphologisch identisch. Danach werden die SRY-Gene (geschlechtsbestimmende Region auf dem Y-Chromosom) aktiv, außerdem noch die SOX9-Gene auf Chromosom 17, welche zusammen für die Entwicklung eines männlichen Embryos sorgen. In Abwesenheit des gebildeten SRY-Proteins entwickeln sich anstelle der Hoden die Ovarien.
Untrügliches Kennzeichen für dieses Entwicklungsstadium ist das Auftreten des H-Y-Antigens, eines schwachen Histokompatibilitätsantigens an der Oberfläche von Zellen männlicher Individuen , dessen Expression durch das Y-Chromosom reguliert wird. Unter dessen Einfluß differenzieren sich die primären Keimstränge zu den Samenröhrchen des entstehenden Hodens. Wichtigstes molekulares Ereignis ist neben der Expression des SRY- und des H-Y-Antigens die Bildung des männlichen Sexualhormons Testosteron, das die weitere Ausdifferenzierung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale beeinflußt und in der späteren Entwicklung für die äußere männliche Gestalt und für die Entwicklung und Aufrechterhaltung des männlichen Sexualverhaltens von prägender Bedeutung ist. Im Gehirn existiert ein Sexualzentrum, das durch pränatale Hormonkonzentrationen entweder auf männliche oder weibliche Verhaltensmuster programmiert wird.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Studie einer kalifornischen Arbeitsgruppe, die bei der Untersuchung der Expressionsmuster von 12.000 Genen des Gehirns von Mäusen herausfand, daß die Aktivität von 51 Genen bei männlichen und weiblichen Embryonen unterschiedlich ausgeprägt war. Und das noch vor Anlage der Hoden in einem sehr frühen Stadium der Embryonalentwicklung.
Fazit: Der Mensch besitzt ein ungleiches Chromosomenpaar (X und Y). Frauen haben zwei X-Chromosomen (XX), Männer ein X und ein Y Chromosom. Das stark reduzierte Y-Chromosom ist entwicklungsgeschichtlich aus einem X-Chromosom entstanden. Es steuert die Anlage der männlichen Geschlechtsanlagen und möglicherweise die Anlage geschlechtsspezifischer Gerhirnanlagen.